Das Mittagessen

11.30 Uhr. Ich habe Hunger. Nun denn, ich begebe mich auf die Suche. Auf die Jagd. Manchmal kann das Stunden dauern und verlangt mir viel Geduld ab. In meiner Jugend — ach, was war ich damals doch für ein Feuerkopf! — habe ich den Stoizismus studiert, um selbstbeherrschter und gelassener zu werden. Das kommt mir heutzutage zugute. Und so drehe ich täglich meine Runde. Halte Ausschau. Bin wachsam. Warte — worauf? Auf den perfekten Moment. Den Moment, wenn die von mir verfolgte Beute unaufmerksam wird. Sich für einen kurzen Moment ablenken lässt. Sich zu sicher fühlt. Dann schlage ich zu, eiskalt. Heute ist es ungewöhnlich ruhig. An solchen Tagen ist besondere Ausdauer gefragt. Eine Stunde vergeht, ohne Aussicht auf Erfolg. Eine zweite Stunde schließt sich nahtlos an, als suche sie nach etwas Gesellschaft. Und doch: Ich weiß, dass mein Moment kommen wird, er ist noch jeden Tag gekommen. David Hume — der alte Schottenrock — wäre mir an dieser Stelle sicher erhitzt ins Wort gefallen, dass ich mich illegitimerweise eines Induktionsschlusses bediene. Dass man nie von Einzelfällen auf ein universelles Gesetz schließen könne. Sicher, alter Knabe, du hast natürlich wie immer recht. Andererseits: du bist tot, und ich esse gleich zu Mittag. Schachmatt, würde ich sagen. In diesem Augenblick erspähe ich mein Ziel. Oh, wie naiv es sich anstellt! So einen leichten Fang habe ich lange nicht mehr gemacht. Ich nähere mich langsam und unauffällig. Keinerlei Reaktion. Und da ist er: der perfekte Moment! Ich presche kompromisslos vor, verschlinge meine Beute mit einem Biss — und mich durchfährt ein schriller Schmerz! Mein scheinbar wehrloses Opfer entpuppt sich als trojanisches Pferd! Ich winde mich tosend, versuche verzweifelt, mich loszureißen. Doch mein Gegner, diese halbe Portion, dieser Wurm, entwickelt eine schier unglaubliche Kraft, zieht mich erbarmungslos mit sich. Und dann - ist plötzlich alles anders. Ein unbeschreibliches Gefühl der Beklemmung. Panik! Ich bekomme kaum Luft. Ich schlage wild um mich, und doch: meine Bewegungen laufen ins Nichts! Oh, grauenhaftes Schicksal, oh Tyche, du unbarmherziges Weib! Zwei riesige Ungetüme erscheinen in meinem getrübten Blickfeld, und während mich das eine festhält, ruft das andere: "Petri Heil! Da hast du wirklich den perfekten Moment erwischt, Junge! Was für ein Klopper!"