Der Mann am Savignyplatz

Es muss ein Mittwoch gewesen sein, denn ich erinnere mich noch, dass ich bei mir dachte: "Heute ist Mittwoch." Auf meinem täglichen Heimweg über den Savignyplatz fiel mir an diesem Nachmittag ein adrett gekleideter, hochgewachsener Mann auf, Mitte 30 und mit weichen Gesichtszügen. Er saß leger vor einem der zahlreichen Cafés und schien auf etwas zu warten. Damit zog er meine Aufmerksamkeit auf sich, und ich blieb gebannt stehen. Welchen Anlass es wohl gab? Ich malte verschiedene Szenarien: ein wichtiges Telefonat; ein erstes Treffen mit einer attraktiven Frau; oder auch nur ein frisch aufgebrühter Minztee. Der Grund blieb jedoch unklar, dieses Warten war ein durch und durch neutrales, unbestimmtes. Mir kam der Gedanke, der Mann wisse womöglich selbst nicht, worauf er warte. Ja, so musste es sein: Dieser Mann hatte weder Ahnung, was ihn erwartete, noch eine Erwartungshaltung. Er wartete schlicht und einfach. Ich empfand dies als recht sonderbar, vielleicht sogar leichtfertig, denn damit öffnete er Tür und Tor zu einer Welt unendlicher Möglichkeiten. Wenn man auf etwas Konkretes wartet, dann trifft es entweder ein — oder eben nicht. Ein ungerichtetes Warten hingegen — kaum abzusehen, was einen erwartet! Ohne den Blick von dem jungen Mann abzuwenden, nahm ich an einem der kleinen Straßentische Platz und begann diskret, gemeinsam mit ihm zu warten. Sicher, ich war mir des Risikos bewusst, gleichwohl überwog meine Neugier. In den folgenden Minuten rauschten viele einzigartige Momente heran, die eines Wartens würdig gewesen wären, und zogen unbeachtet vorbei. Plötzlich jedoch raschelte es in den Baumwipfeln, und das Laub am Straßenrand begann zu tanzen. Ein Sturm zog auf. Lose Zeitungen machten sich selbstständig und verbreiteten im Flug ihre Nachrichten. Fenster und Türen wurden hektisch geschlossen, niemand wollte den Wind in diesem trunkenen Zustand einlassen. Da erhob sich der Mann, spannte einen riesigen Langschirm auf, blickte mit einem heiteren Lächeln gen Himmel und flog sodann in die Lüfte davon. Tatsächlich — er hatte auf den perfekten Moment gewartet.